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Kirche in WDR 5 | 14.07.2023 | 06:55 Uhr
Mut zur Lücke
Guten Morgen.
„Mut zur Lücke!“ Den braucht es wohl manchmal. Vor einer Prüfung und Klausur zum Beispiel.
„Mut zur Lücke“, den spreche ich Studierenden zu, wenn sie zu mir in die Beratung kommen und das Pensum, den Lernstoff für die bevorstehende Klausur nicht mehr schaffen.
Und ich versuche sie zu ermutigen, das Unperfekte, Unvollkommene, auch Fehler zuzulassen.
„Mut zur Lücke“ - es bedeutet in diesem Fall, loszulassen. Zu akzeptieren, dass es vielleicht auch schief gehen kann. Es aber zugleich auch nicht zum Schlimmsten kommen muss. Entscheidender ist doch mein Umgang mit dem Nichtwissen. Und vielleicht macht gerade das ein „Leben in Fülle“ erst wirklich aus.
Einen zweifelsohne anderen Mut zur Lücke, der eine ganz andere Dimension hat, brauchen die Menschen im Ahrtal und anderen Flutgebieten.
Bei der Flut, sie jährt sich jetzt zum zweiten Mal, wurden Häuser, Brücken, Straßen einfach weggespült. Ganze Landschaften und Regionen verwüstet.
Das Wasser riss Erdlöcher in den Boden - wo vorher Brücken und Ufer waren, klafft nun eine Riesenlücke, zum Teil bis heute noch. Zukunftsträume, für manche auch der Glaube an einen fürsorglichen Gott – wie weggeschwemmt. Manches ist ersetzbar. Die Keller sind wieder aufgefüllt, Neues wurde aufgebaut. „We ahr open“ – auf Deutsch: wir haben geöffnet, sind zwar noch lange nicht fertig, aber offen und froh über deinen Besuch“ – so werben inzwischen Schilder für Tourismus in der Region. Trotzdem klaffen immer noch viele Lücken. Und die Risse in der Seele – sie bleiben noch für lange Zeit.
Als der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer während der Zeit des 2. Weltkrieges im Gefängnis sitzt, fernab seiner Familie und Verwandten, hat er seine Gedanken dazu so formuliert:
Sprecher: „Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren“... „Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das Vergangene Schöne nicht mehr als einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.“ (1)
Autorin: In aller Schwere und allem Schmerz, empfiehlt Dietrich Bonhoeffer:
Nimm am Leben teil. Du darfst dich anderen Dingen zuwenden. Trotz der erzwungenen Trennung.
Und ich füge hinzu: Sei fröhlich. Du darfst lachen.
Neues beginnen. Dir Menschen suchen, um die du dich kümmern kannst.
Im Bewusstsein, dass manche Lücke einfach immer bleibt. Es ist möglich: sich dem Schmerz zu stellen und sich zugleich dem Leben zuzuwenden, ohne zu vergessen.
Das ist allerdings hohe Kunst und braucht viel Mut. Buchstäblich den „Mut zur Lücke“.
Mutig die Lücke offenhalten – gerade dann kann sie sich neu mit Inhalt füllen.
Gerade so kann aus dem Schmerz etwas Wertvolles und Tröstliches entstehen.
Auch wenn ich nicht weiß, ob mir das immer so gelingt. Aber ich vertraue darauf, dass Gott mich gnädig ansieht und segnet, was lückenhaft bleibt, Mut zur Lücke schenkt.
Und so manche Bruchstellen und Lücken ermöglichen es uns, aneinander anzuknüpfen.
„We ahr open– wir haben geöffnet, sind zwar noch lange nicht fertig, aber offen und froh über deinen Besuch,“ lese ich einladend auf dem Schild im Ahrtal. Und wer weiß, was daraus noch weiter entsteht und wieder ganz neu werden kann.
Pfarrerin Christiane Neufang aus Köln.
Quellen:
(1) aus: Widerstand und Ergebung, DBW-Band 8, Gütersloh, 2011, Seite 255 f.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze