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Kirche in WDR 5 | 05.08.2023 | 06:55 Uhr
Was macht sich denn der Mond daraus …
Dabei
ist die Geschichte gar nicht spektakulär. Pastor Bieker hatte ein junges, elfjähriges
Mädchen angesprochen und gefragt, ob sie nicht als Lektorin tätig werden
wollte. Weil er mitbekommen hatte, dass sie schön vorlesen konnte. Das Mädchen
ließ sich darauf ein – und stand nun regelmäßig am Ambo vor der Gemeinde und
trug die Lesungen vor. Im Anschluss an die Messe ging sie dann in die
Sakristei, um sich den nächsten Termin abzuholen, an dem sie lesen sollte.
Manchmal gab ihr Pastor Bieker dann noch einen Tipp. Wie das eine oder andere
schwierige Wort richtig auszusprechen war. Phrygien und
Pamphylien zum
Beispiel.
In einem Gottesdienst jedenfalls passierte es, dass dieses Mädchen plötzlich die Buchstaben nicht mehr lesen konnte. Alles war verschwommen. Nichts mehr erkennbar. Eine ziemlich unangenehme Situation. Peinlich auch. Zumindest aus Sicht der Lektorin. Sie schaute hilfesuchend zu Pastor Bieker. Und der spürte das offensichtlich – dass das Kind am liebsten vor Scham im Erdboden versunken wäre. Er ging deshalb ruhig an den Lesepult. Legte die Hand auf die Schulter des Mädchens, schickte sie auf ihren Platz zurück und trug dann an ihrer Stelle die Lesung vor. Und dann instruierte er – von den Gläubigen in den Bänken kaum wahrnehmbar – die Messdiener, im Anschluss an die Messe dafür zu sorgen, dass das Mädchen auf keinen Fall einfach nach Hause ging, sondern noch einmal in die Sakristei kam. Die Messdiener stellten sich deshalb an die Kirchentüren und fingen das Mädchen ab. Und als sie dann in die Sakristei kam, hob Pastor Bieker den Zeigefinger und sagte: „Und dass du mir jetzt auf keinen Fall aufhörst. So etwas kann passieren. Das ist nicht schlimm. Und wenn Du Dir Gedanken machst, was jetzt die Leute denken – dann sage ich Dir: Was macht sich denn der Mond daraus, wenn ihn die Hunde anbellen …“
Liebe Hörerinnen und Hörer: Ja, ich hadere manches Mal mit meiner Kirche. Und dann erinnern mich Menschen wie Pastor Bieker daran, dass ich scheitern darf. Dass mir Dinge misslingen dürfen. Dass ich mich nicht vom Urteil der Menge abhängig machen muss. Dass ich immer wieder eine neue Chance bekomme. Und dass Kirche und Glaube kein Raum sind, in dem ich perfekt sein muss. Überhaupt nicht. Hier bekomme ich keine Noten. Hier geht es nicht darum, der Beste zu sein. Sondern hier darf ich mich mit dem Einbringen, was ich kann und habe – und sei es noch so gering und noch so wenig. Und auf solch einen Ort möchte ich nicht verzichten. Niemals.
Nachdenklich, aber ziemlich zuversichtlich grüßt Sie deshalb Ihr Diakon Claudius Rosenthal aus Altenwenden.