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Kirche in WDR 5 | 19.08.2023 | 06:55 Uhr
Verschnupfte Dankbarkeit
Ich sitz im ICE Richtung Berlin. 32 Grad, die Sonne scheint, der Zug ist voll, die Klimaanlage kaputt, meine Nase zu, mein letztes Taschentuch im Gebrauch. Noch 2 Stunden und ich kann jetzt schon kaum mehr atmen: Die vielen Menschen um mich herum; diese Hitze, die defekte Klimaanlage und dann ist noch meine Nase zu. Das macht mich rasend.
Ich denke an letzte Woche zurück…. Wie schön es doch war, frei Atmen zu können und wie ich das einfach null wertgeschätzt habe. Wie dumm ich doch war - was würde ich gerade nur darum geben, eine freie Nase zu haben und keine Luftnot zu spüren. Und dann ist da direkt mein nächster Gedanke: Wie oft passiert mir das eigentlich noch? Dass ich Situationen und Dinge in meinem Alltag als selbstverständlich wahrnehme? Meine erschreckende Antwort, die ich mir selbst gebe: Eigentlich bei fast allem.
Wenn ich beim Inliner fahren gestürzt bin um mir den Arm aufgeratscht habe und die nächsten Tage jede Bewegung weh tut, dann merke ich erst dann, wie undankbar ich doch vorher war, als ich meine beiden Arme ohne jegliche Schmerzen bewegen konnte.
Wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch bin und sie gekocht haben und ich mich an den reich gedeckten Tisch setzen kann, dann kann ich dankbar dafür sein und nicht über irgendeine fehlende Zutat meckern.
Ich muss mir viel öfters ins Gedächtnis rufen, dass nicht jeder Tag immer super gut ist, aber dass es immer etwas Gutes gibt, für das ich dankbar sein kann. Und wenn es auch noch so eine Kleinigkeit ist…
Es gibt einfach Tage, an denen scheinbar alles schief läuft und sich jeder und alles gegen einen wendet. Es sind diese Tage, die man am liebsten aus dem Kalender streichen würden, in denen man sich selbst bemitleiden und am liebsten nicht mehr unter Menschen gehen will. Gerade dann ist es wichtig, sich genau in diesen Situationen auf Dinge zu konzentrieren die gut sind und die einen Dankbarkeit spüren lassen. Es gibt sie. Sie müssen nur von unseren Gedanken in den Vordergrund geholt werden.
Es ist ganz und gar nicht leicht, gerade in Krisen Situationen diese negativen Gefühle zur Seite zu schieben und auf die dankbaren Sachen zu gucken. Aber!! Es ist es immer Wert!
In der Psychologie ist das ganz klar: Dankbar sein ist eine wichtige Übung zur seelischen Gesundheit.[1] Daher führen viele Menschen Dankbarkeitstagebücher. Denn wer sich darin etwas trainiert, immer wieder mit einem dankbaren Blick auf sein Leben zu schauen, der ist etwas mehr gerüstet für Tage, an denen das Leben einem mehr zusetzt, als eine verstopfte Nase im überfüllten Zug.
Ich persönlich brauche für meine Dankbarkeitsübungen allerdings eine Richtung. Ich möchte jemanden diesen Dank zusprechen. Ich möchte wissen, dass dieser Dank ankommt. Morgen ist Sonntag und da feiern Christen die Eucharistie. Das Wort ist griechisch und heißt übersetzt „Danksagung“. Mein Christsein speist sich aus unterschiedlichen Quellen und Motivationen. Aber eine ganz wichtige ist: Christsein ist eine große Dankbarkeitsübung.
Nachdem ich meine Gedanken zu Ende gedacht habe, höre ich schon die Durchsage des Schaffners: „In wenigen Minuten erreichen wir, Berlin Hbf- Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“ und so, habe ich bei all meinen Gedanken um Dankbarkeit gar nicht gemerkt, wie schnell die letzten 2 Stunden vorbei gerast sind. Aber ich bin dankbar dafür. Dankbar für die sichere Fahrt mit dem ICE, dankbar für die kleine Auszeit und vielleicht ja auch dankbar für meinen Schnupfen, der mich diesmal richtig was gelehrt hat. Und wofür bist du heute dankbar?
Es grüßt Sie herzlich, Michelle Engel
Gemeindereferentin aus Krefel.
[1] https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/dankbarkeit-die-wurzel-fuer-gesundheit-und-wohlbefinden-a-1124119.html?sara_ref=re-so-app-sh