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Das Geistliche Wort | 17.09.2023 | 08:40 Uhr

„Von der Tugend der Maßlosigkeit: Nicht siebenmal…“

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

es gibt so Geschichten in der Bibel, die gehen einem nicht aus dem Kopf – mir jedenfalls nicht. Auch wenn man sie schon zigfach gehört, gelesen und viele Male sogar selbst vorgelesen hat. Heute wird wieder eine solche Geschichte in den katholischen Gottesdiensten vorgetragen:

In jener Zeit trat Petrus zu Jesus

und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben,

wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal?

Jesus sagte zu ihm:

Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.

[Musik 1]

Die Sieben. Eine heilige Zahl. In ihr treffen sich die Zahlen drei und vier. Die göttliche drei vereint sich mit der irdischen vier: vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten, vier Elemente. Eine vollkommene Zahl. Mit der Sieben wird oft etwas zusammengefasst und vervollkommnet – positives wie negatives: Sieben Tugenden, sieben Todsünden, sieben Tage der Welterschaffung, die sieben Zwerge aus dem Märchen, die sieben Brücken, über die „Karat“ seine Zuhörerinnen und Zuhörer gehen lässt, sieben Weltwunder und schließlich auch die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Die Siebenzahl steht sogar am Ende eines irdischen Lebens für die ewige Ruhe.

Fragt man Menschen nach ihrer Lieblingszahl zwischen eins und neun, ist die mit Abstand häufigste Antwort: Die Sieben. Und bei den Farben steht mit Abstand Blau auf der Hitliste an Position eins – was die Verhaltensforschung zu der Bezeichnung „Blue-Seven-Phänomen“ gebracht hat: Blau – ebenso beliebt wie die Sieben. Und schließlich: Die Sieben steht oft als Platzhalter für „viel“ da.

Die vielfältige Symbolik, die mit der Sieben verbunden ist, war auch den Menschen aus der Zeit Jesu durchaus geläufig. Wir dürfen sogar davon ausgehen, dass solche Symboliken viel tiefer in ihrem Bewusstsein verankert waren, als wir das bei unseren Zeitgenossen heute vermuten dürfen. Jedenfalls ist die Zahl sieben für Petrus damals geläufig, wenn er fragt:

Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal?

[Musik 2]

Petrus will es also direkt ganz deutlich wissen:

Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal?

Da sündigt also einer gegen mich. Ungewöhnlich schon, dass ICH IHM vergeben soll. Eigentlich muss der sich doch erst einmal bei mir entschuldigen bevor ich vergebe – oder wie war das?

Petrus möchte sich vielleicht ein wenig von den anderen abheben – er ist ja immer ein bisschen forscher als seine Kollegen. Er will Jesus zeigen: Sieh her – ich habe da etwas von dem, was du uns sagst, verstanden. Und ich will es auch gleich umsetzen. Und jetzt sag mir mal etwas dazu. Und wenn ich das gleich ganz oft mache mit dem vergeben, dann ist das doch eigentlich perfekt! Oder habe ich dich nicht richtig verstanden: Siebenmal…?

Doch dann wieder Jesus:

Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.

Und was soll das jetzt? Immer noch nicht genug? Wie gesagt – eigentlich sollte das doch andersherum sein… Da soll sich der andere doch erst einmal bei mir entschuldigen. Aber nein – ich soll vergeben und das siebzigmal siebenmal… das ist doch maßlos. Und Maßlosigkeit selbst ist doch eigentlich auch schon wieder Sünde - oder?!

Doch Jesus setzt noch einen drauf: Er erzählt zur Erläuterung das Gleichnis vom König und seinen Knechten, denen er Vermögen anvertraut hat.


Mit dem Himmelreich ist es deshalb wie mit einem König,

der beschloss, von seinen Knechten Rechenschaft zu verlangen.

Als er nun mit der Abrechnung begann, brachte man einen zu ihm,

der ihm zehntausend Talente schuldig war.

Weil er aber das Geld nicht zurückzahlen konnte,

befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, was er besaß,

zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen.

Da fiel der Knecht vor ihm auf die Knie und bat: Hab Geduld mit mir!

Ich werde dir alles zurückzahlen.

Der Herr des Knechtes hatte Mitleid, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld.

Zehntausend Talente. Da habe ich mich dann immer gefragt: Was ist das denn für Betrag? – Die Bibelwissenschaftler und Historiker helfen mir weiter: Zehntausend Talente – das ist unfassbar viel Geld. Das gesamte Steuer-Aufkommen von Judäa und Galiläa etwa betrug zu dieser Zeit gerade einmal zweihundert Talente, ein fünfzigstel der angesprochenen Schuld. Zehntausend Talente – das war für die Zuhörerinnen und Zuhörer eine Geldmenge jenseits aller Vorstellungskraft. Absolut utopisch.

Realistischer kommt da schon der zweite Teil des Gleichnisses daher: 100 Denare – etwa das Halbjahresverdienst eines landwirtschaftlichen Tagelöhners damals. Immer noch sehr viel Geld – aber vorstellbar.

Als nun der Knecht hinausging,

traf er einen Mitknecht, der ihm hundert Denáre schuldig war.

Er packte ihn, würgte ihn und sagte: Bezahl, was du schuldig bist!

Da fiel der Mitknecht vor ihm nieder und flehte: Hab Geduld mit mir!

Ich werde es dir zurückzahlen.

Er aber wollte nicht, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt habe.

Im Gegensatz zu den zehntausend Talenten von vorhin lächerlich. Und deshalb ins Gefängnis?

Hand aufs Herz: Haben sie nicht auch gerade diesen Gedanken gehabt: Das ist ja wieder einmal typisch. Den Typen mit den zehntausend Talenten lässt man laufen, und den mit den hundert Denáren steckt man in den Knast. Kenn ich doch irgendwoher… Unwillkürlich kommen mir da vollkommen unverständliche Gerichtsurteile in den Sinn, die in der jüngeren Vergangenheit für Schlagzeilen gesorgt haben.

Ja – dieses Gleichnis kratzt bisweilen gewaltig am allgemeinen Rechts- und Gerechtigkeits-Empfinden. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Schreiben unsere Gerichte jetzt schon aus der Bibel ab und setzen die Ungerechtigkeiten von dort fort?

[Musik 3]

Nunja – es ist ein Gleichnis, das Jesus da erzählt. Eben keine Gerichtsakte. Und wie in Gleichnissen so üblich, nutzt er drastische Bilder, die etwas verdeutlichen wollen und seine Zuhörerinnen und Zuhörer ins Nachdenken bringen. Deshalb noch einmal tief durchatmen – abregen und noch einmal genau hinsehen und -hören. Da kommt dann auch diese Passage in den Blick:


Als die Mitknechte das sahen, waren sie sehr betrübt;

sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles, was geschehen war.

Da ließ ihn sein Herr rufen und sagte zu ihm: Du elender Knecht!

Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich angefleht hast.

Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?

Da kommt eine neue Kategorie ins Spiel: Erbarmen. Eigentlich ein altmodisches Wort. Eines, das eigentlich nur noch in ausweglosen Situationen auftaucht, wenn gar nichts mehr geht. Aber hier bekommt dieses altmodische Wort doch eine ganz neue Wendung mit – wie ich meine – faszinierender Aktualität: Erbarmen haben und ausüben kann ich nämlich in großem und in kleinem Stil. Wichtig dabei ist allerdings, dass Erbarmen in meinem Denken und Handeln einen festen Platz bekommt – vielleicht auch und gerade da, wo Mitmenschen gar nicht damit rechnen. Und dass Erbarmen sich bei mir zu einer Lebenshaltung entwickelt. – Genau das will Jesus bei seinen Freundinnen und Freunden erreichen – und damit auch bei mir.

[Musik 4]

Doch zurück zu Petrus. Die Botschaft von Jesus an ihn ist doch: Du hast schon etwas Gutes getan, indem du viel vergeben hast. Aber du kannst noch unendlich vielmal mehr vergeben. Dazu bist du fähig – auch wenn du es vielleicht jetzt noch nicht bei dir für möglich hältst. Maßlos kannst du sein – weil du genau diese Maßlosigkeit auch an dir schon erfahren hast. Durch Gott, der dir immer wieder vergibt. Ohne Ende. Und das nicht nur siebenmal, nicht nur siebzigmal siebenmal, sondern noch so unendlich viel mehr. So unvorstellbar, astronomisch viel wie die zehntausend Talente, von denen im ersten Teil des Gleichnisses die Rede war. Schlag dich nicht mit den hundert Denáren herum – mach deinen Blick weit. So weit, wie Gott ihn macht. Und weil du da nicht mithalten können wirst, denk einfach an die zehntausend Talente – unermesslich viel. Ja – das kannst du. Du kannst das ebenso, wie du es selbst schon von Gott erfahren hast. Ein Leben lang. Denk nur einmal ein paar Augenblicke darüber nach!

Das tröstliche und zugleich höchst anspruchsvolle dieser Botschaft scheint nun langsam auf. Tröstlich ist sie, weil umgekehrt auch ich von meinem Gegenüber unendlich viel Vergebung erwarten darf. Anspruchsvoll ist sie, weil ich aufgerufen bin, ihm oder ihr gegenüber genauso unendlich viel zu vergeben. Das klingt jetzt vielleicht so ein bisschen wie ein Freibrief: Weil du mir vergibst und ich dir vergebe, kommt es ja nicht so darauf an, was wir tun – also einfach mal drauf los – egal welche Schulden und welchen Schaden wir anrichten. Aber genau das ist nicht gemeint. Der Aufruf zu Vergebung bedeutet eigentlich: Übernimm Verantwortung für dich und dein Gegenüber. Damit rückt hier etwas in den Fokus, das so gar nicht mit Schuld, Sühne und Vergebung in Verbindung gebracht wird. Ja, Verantwortung übernehmen – etwas, das vielen Menschen immer schwerer fällt. Wer will schon für etwas verantwortlich sein? Schon gar für die Schuld anderer? Wir sind doch mittlerweile Meister darin geworden, Verantwortung wegzuschieben, aufzulösen, einfach nicht wahrzunehmen. Wie oft rufen wir nach Verantwortlichen für dieses und jenes – und vergessen gleichzeitig, dass auch uns die Tugend, Verantwortung zu übernehmen, sehr gut zu Gesicht stehen könnte. Wie schwer fällt uns und unseren Mitmenschen das, vor allem, wenn sie in leitenden Positionen stehen? Ich denke da an die Politik, in der man sich allzu gerne wegduckt – aber auch an unsere Kirchen, in denen gerade in Bezug auf den Missbrauchsskandal nur ganz wenige wirklich Verantwortung übernehmen und das den Opfern dieser Verbrechen auch unmissverständlich zeigen. Ein weiterer Skandal im Gefolge des Skandals! Andererseits erfahre ich immer da, wo Menschen wirklich Verantwortung übernehmen, keine Schwere, sondern ich spüre eine Leichtigkeit, die vieles erträglicher macht. Vielleicht ist das genau unser Problem und das Problem, auf das die Bibel in ihren uralten Texten immer wieder neu aufmerksam machen will: Verantwortung füreinander zu übernehmen – das wäre es doch. Sich solchermaßen aufeinander verlassen zu können, das machte uns als menschliche Gemeinschaft sehr stark – ja fast unschlagbar. Und hier, sagt letztlich Jesus selbst uns, dürft ihr maßlos sein. Denn ihr habt das alles auch schon maßlos geschenkt bekommen.

[Musik 5]

Also: Sei doch maßlos, wenn es um Verantwortung geht! Übe dich in dieser Tugend der Maßlosigkeit beim Vergeben. Und das Faszinierende, was dann für das Zusammenleben passiert, ist doch: Wenn wir das gegenseitig tun, wächst das Vertrauen zueinander und miteinander. Wir können uns aufeinander siebzigmal siebenmal verlassen. Unsere Fähigkeit, einander zu vergeben, ist maßlos – geht gegen unendlich.

Ok. Vielleicht klingt das immer noch zu utopisch und nach naiv. Das Gleichnis vom König und seinen Knechten kennt noch eine letzte Pointe und das tröstet mich und schenkt mir Vertrauen, dass sich Verantwortung lohnt: Am Ende werden alle doch noch mal von Gott zur Rechenschaft gezogen, auch die ganz Großen. Auch sie und wir alle werden nach der Verantwortung gefragt, ob wir die übernommen haben, siebzigmal siebenmal für die anderen, die mir was schuldig geblieben sind. Ich bin mir sicher: Wer Verantwortung übernimmt, braucht sich dann nicht zu sorgen. Und: Gilt nicht das, was Jesus von Petrus verlangt, nicht auch für ihn und damit für Gott selbst?

Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Ulrich Clancett aus Jüchen.

[Musik 6]



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