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Kirche in WDR 5 | 30.09.2023 | 07:55 Uhr
„Zeitalter des Zorns“
Natürlich gibt es die Notwendigkeit, Missstände in der Gesellschaft aufzudecken und beim Namen zu nennen. Ungerechtigkeiten sollen beim Namen benannt werden, damit sich etwas zum Guten verändert. Das hat auch durchaus biblische Tradition. Der Prophet Amos war z.B. alles andere als ein Leisetreter. Er hat den Mächtigen und Reichen seiner Zeit verbal kräftig gegen das Schienenbein getreten.
Was mich ich aber
beunruhigt, ist jene zügellose Wut, die wirklich aus der Tiefe der Menschen
kommt und die nicht darauf ausgerichtet ist, etwas zum Guten zu verändern. Es
ist eine blinde Wut. Sie lässt nicht mehr sehen, dass auch der, dessen Meinung
ich nicht teile, ein Mensch mit guter Absicht ist. Diese Wut spaltet zwischen
„denen“ und „wir“ –
schafft Gräben und
reißt Brücken nieder. Es erschreckt mich manchmal zutiefst, wenn sich bei
Menschen, die ich zu kennen glaubte, das Gesicht verhärtet, der Blick
verschließt und ein offenes Gespräch gar nicht mehr möglich ist.
Wie kann man diese Dynamik durchbrechen? Mir kommt eine einfache Übung in den Sinn, die habe ich früher mit Schülerinnen und Schülern während der Tage religiöser Orientierung gemacht. Ich habe einen Korb mit Süßigkeiten in die Mitte gestellt und einige Jugendliche gebeten, dass sie um diesen Korb einen festen und geschlossenen Kreis bilden. Dann habe ich eine zweite Gruppe gebeten, sich Zugang zum Korb zu verschaffen. – Was dann geschah, wird Sie wohl wenig überraschen. Es gab jedes Mal ein wildes Gerangel. Es wurde gegen den Kreis angerannt, angesprungen und alle Techniken des Eindringens ausprobiert.
Dann habe ich die Schülerinnen und Schüler gefragt, ob es auch einen anderen Weg gegeben hätte, an den Korb zu kommen. Nach einigem Nachdenken kamen die jungen Menschen manchmal darauf: „Wir hätten freundlich bitten können, dass man uns hineinlässt.“
Manche von ihnen mögen es für naiv halten, wenn ich dieses Beispiel auf unsere Gesellschaft übertrage. Aber ich bin davon überzeugt, dass manche grundlegende Wahrheit auch einfach ist und sein darf. Und ich glaube, dass die christliche Haltung des Mitgefühls und der Zuwendung mein gesellschaftlicher Beitrag sein könnte, die Dynamik des Angriffs und der Verteidigung zu durchbrechen. Und wenn ich mutig genug bin, es im Kleinen zu beginnen, besteht die Chance, dass es im Größeren um sich greift.
Wäre das nicht eine gute Aufgabe als Christin und als Christ in dieser Zeit: ein Zeitalter des Zorns in eines der Versöhnung zu verwandeln – nicht gleich auf der ganzen Welt, aber an dem Ort, an dem ich lebe und bei den Menschen, die Gott heute auf meinen Weg stellt?
Aus Münster grüßt Sie Pfarrer Jochen Reidegeld.