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Das Geistliche Wort | 01.10.2023 | 08:40 Uhr

Leben im Miteinander von Anpassung und Freiheit

Guten Morgen!

Zwei Jungs! Joel und Simon! Sie gehören zu meiner Geschichte, weil ich sie während ihrer Schullaufbahn am Emschertal- Berufskolleg in Herne begleitet habe – vier Jahre lang. Ich bin da Lehrerin für Deutsch und Religion. Und ich muss sagen: Ich gebe ungern auf, wenn ich merke, da ist bei den Schülerinnen und Schülern noch etwas herauszuholen. So bin ich auch hier drangeblieben. Das sind nämlich kluge Jungs, aus denen kann noch was werden. Deshalb: Die sollen sich mal nicht hängen lassen. – Und ich muss gleich zu Beginn sagen: Die Jungs haben nicht auf mich gehört, haben ihr Ding durchgezogen. Und darüber will ich erzählen. Beide haben mir erlaubt, über sie zu berichten, über ihre Lustlosigkeit am Leben und an der Schule. Sie haben mir auch erlaubt, ihre Namen zu nennen, denn sie stehen für sich ein.

Musik I:

Dass ich über diese Jungs erzähle, hat etwas mit einem Text aus der Bibel zutun, der heute in den katholischen Gottesdiensten vorgetragen wird. Da erzählt Jesus über zwei Söhne, die ein Gespräch mit ihrem Vater führen. Das geht so: Die Söhne sollen in den Weinberg gehen, sagt der Vater. Der erste sagt: „Nein“, geht aber dann doch. Der zweite sagt: „Ja“, geht aber nicht.

Ich erzähle diese Geschichte jetzt mal aus einer etwas anderen Perspektive, die nicht gleich den zweiten Sohn in den Himmel hebt, weil der ja letztlich gehorsam ist. Mir kommt es auf die Entwicklung beider Söhne an, ich sag mal, auf die sozialpsychologische Emanzipation.

Ein Mann bittet also seine Söhne im Weinberg zu arbeiten. Beide haben keine Lust, der eine sagt das sofort, der andere zeigt das erst später.

Es geht hier um Jugendliche, die ihren Eltern – und ich ergänze bewusst – auch ihren Lehrern nicht folgen, die aufmüpfen gegen das Regelwerk des Lebens.

Ich stelle mir das so vor: Beide Söhne sollen arbeiten gehen, in den Weinberg! Da gibt es immer viel zu tun. So ein Weinberg muss ja gepflegt werden. Harte Arbeit, an den Hängen die Trauben zu pflücken, das Gehölz abzuschneiden, das Unkraut zu jäten. Da kommt man so richtig ins Schwitzen.

Im Weinberg arbeiten ziemlich viele Menschen. Da herrscht ein rauer Ton, da muss angepackt werden, da wird niemand in Watte gepackt, da muss gezeigt werden: Ich kann was, ich kann auch den ein oder anderen blöden Spruch wegstecken und wenn ich mal auf die Nase fliege: zügig wieder aufstehen und bloß nichts anmerken lassen.

Also denkt der erste Sohn: „Das Wetter ist doch viel zu schön, um zu arbeiten. Da chill ich doch lieber.“ Also mutig in die Opposition: „Ne, Papa, ich will nicht!“ Klare Ansage, ganz schön mutig, dem Vater – also einer Autoritätsperson – zu widersprechen. Und bemerkenswert ist doch: Der Vater sanktioniert nicht, er überlässt dem Kind die Entscheidung. –

Dann aber scheint der Sohn irgendwie Schiss vor der eigenen Courage zu haben und: Er geht doch zur Arbeit. Wohlmöglich hat er sich ja vorgestellt: Wenn mein Vater enttäuscht ist, könnte es Stress geben.

Der zweite Sohn hingegen scheint ein kluges Schlitzohr zu sein: Er hat auch keinen Bock auf die Arbeit, scheut aber den Konflikt mit dem Vater und sagt: „Ja klar Papa, mach ich“, aber geht nicht hin. Vielleicht legt er sich ja auch eine eigene Entschuldigung zurecht und denkt sich: „Mensch, da arbeiten so viele Leute, da fällt gar nicht auf, wenn ich nicht hingehe.“ Also abtauchen.

Musik II:

Diese Geschichte von den beiden Söhnen, die in den Weinberg gehen sollen, erzählt ganz viel über Heranwachsende. In den Weinberg geschickt zu werden und dort zu arbeiten, ist eine Aufforderung zum Erwachsenenwerden, eine Aufforderung, seinen eigenen Weg zu entwickeln unter bestimmten Vorgaben und sich dabei selbst zu entdecken, in einer Welt, die nicht mehr kindlich behütet ist.

In dieser Arbeitswelt ist Einsatz gefragt, da müssen Entscheidungen getroffen werden, da wird nach Scheitern das Weitermachen erwartet. Ja, die Welt der Erwachsenen ist anstrengend: Da wird erwartet, gefordert und auch ermahnt. Doch dafür sind die beiden Söhne in der Geschichte noch nicht bereit. Sie bewegen sich noch in der Spannung, einem elterlichen Lebensbild zu entsprechen und ein eigenes zu entwickeln. Das ist die Zeit des Infrage-Stellens elterlicher und wohl auch institutioneller Vorgaben. Hier wird Rebellion geübt gegen: „Das war schon immer so!“ Es ist natürlich auch die Zeit, sich selbst auszuprobieren mit allem Scheitern und allem Erfolg und damit verbunden: die Selbstüberschätzung des eigenen Ichs.

Aber das macht doch diese Lebensphase so spannend: Hier entscheidet sich ja viel für die Entwicklung eines jungen Menschen! Und genau das habe ich beobachtet bei Joel und Simon, den beiden Jungs aus meiner Schule. Die wären sicher gut klargekommen mit den beiden Söhnen aus der Geschichte von Jesus. Joel, der ebenfalls verweigert und dann die Kurve kriegt, wie der erste Sohn. Und Simon, der von seiner inneren Abneigung gegen alles, was nach Autorität riecht, so gefangen ist, dass er seiner Ablehnung treu bleibt.

Musik III:

Joel und Simon, zwei Schüler aus meinem Unterricht, die gut passen zu den beiden Söhnen aus der Geschichte, die Jesus erzählt hat. Lassen Sie mich ihre Geschichte erzählen. Sie sind Freunde seit sechs Jahren, haben sich über die Jugendarbeit in der evangelischen Kirche kennengelernt, sind so richtig dicke Freunde. Da passt kein Blatt zwischen. Joel wird mit vielen Geschwistern groß. Die Eltern sind überfordert mit all den Erziehungsaufgaben. Zu Hause ist für ihn kein Ort, wo er sich wohl fühlt, irgendwie hat er immer das Gefühl, unerwünscht zu sein. Es fühlt sich für ihn nicht richtig an in dem Haus mit den vielen Kindern. Alle wollen nur, dass er funktioniert, keinen Stress macht, irgendwie die Schule hinkriegt, um zügig für sich selbst zu sorgen. Nur allein schafft er das nicht: Da fehlt das Interesse an ihm, und der Zuspruch, dass dieses Kind Joel einmalig und willkommen ist. Na ja, was muss man machen, wenn man noch keine 18 ist und keinen Ausbildungsplatz hat: Man macht die Schule weiter. Diese verhasste Institution mit autoritären Strukturen, Lehrern, die sagen, was zu tun ist. Joels Gefühl: Schule klaut Lebenszeit. Lebenszeit, die zum Abhängen genutzt werden kann, mit Freunden, irgendwo in der Stadt.

Joel kommt in meine Klasse und müpft auf, stört, immer ein flotter Spruch zur unpassenden Zeit. Und: ungezählte Klogänge, immer länger weg. Wenn er zurückkommt, gucke ich in glasige Augen. Was tun? Er ist unerreichbar. Ich frage mich: Ist sein widerständiges Handeln eine Rebellion gegen scheinbar sinnlose Anforderungen? Oder will er mit seinem Stören seine Macht zeigen, endlich etwas bewirken zu können? Will er die Mitschüler und Mitschülerinnen auf seine Seite ziehen, Beachtung bekommen, endlich jemand sein? Mir kommt es so vor, dass er mit seinem Auftreten herausschreit, wie verloren er eigentlich ist. Und schließlich die Quittung: Er schafft das Klassenziel nicht. – Jetzt, mit 18, kann er machen, was er will. Er arbeitet mal hier, mal dort, ohne festen Plan. Merkt, dass ihn das alles ankotzt, kommt nicht raus. Immer wieder Joints, wegbeamen aus der realen Wirklichkeit in seine Welt, in der alles erreichbar scheint, aber nichts erreicht wird. Und immer das schlechte Gewissen und die Selbstentschuldigung, wie er mir später sagt: „Hab versprochen, es zu schaffen, kann nur im Moment nicht!“

Musik IV:

Joel, ist ziemlich am Ende. Und Simon, sein Freund, sieht ihn absaufen. Er meldet sich täglich bei ihm, will ihm Tagesstruktur geben, Halt anbieten. So von Freund zu Freund. Aber auch Simon ist wacklig auf den Beinen. Dauerstress in der Schule, Abbruch bei der Ausbildung, irgendwie schwierig den Anforderungen zu entsprechen. Und sein Papa ist gegangen als er neun war, hat die Familie verlassen, seine Karriere verfolgt. Simon sagt: „Der hatte den Arsch voller Kohle, aber mich nicht auf der Kette.“ Und der Vater? Der wollte bloß, dass Simon funktioniert, dass er nicht auffällt. Da hat der Vater nicht mit Simon gerechnet, der wollte wer sein, das hat er allen gezeigt und Stress gemacht. Sein Lebensgrundsatz: „Gib nie die Kontrolle ab! Vertraue keinem!“ Und das hat er durchgezogen. Hat sein Ding gemacht! Keine Ausbildung, aber trotzdem viel Geld verdient, hart gearbeitet und Anerkennung bekommen. Selbstkritisch sagt er heute:“ Super viel Geld verdient, ausgegeben, gefeiert, obwohl ich nichts erreicht habe.“

Und dann kam der Nachmittag in der Garage. Lässig lehnen Joel und Simon mit ihren Zigaretten am weißen Tiguan von Simon. Sie überlegen zum ixten Mal, dem Leben eine Struktur zu geben, gemeinsam das Fachabi zu schaffen. Die Jungs haben sich heiß geredet, ja, die zwei Jahre schaffen wir, wir halten zusammen. Joel sagt: „Wir waren heiß wie Frittenfett auf Schule!“ Eigentlich ist das eine gute Ausgangslage, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, es zu gestalten. Wenn da nicht die Herausforderung wäre: Es gibt auch in der Schule Autoritäten, an denen man sich abarbeiten muss, will man seinen Weg gehen.

Musik V:

Es ging eine Zeitlang ganz gut. Joel und Simon haben sich zusammengerissen. Aber dann sind sie wieder hineingeschlittert in dieses alte Muster: Schulmüdigkeit, keine Lust auf Lehrer, die was von ihnen wollen. Sie wollen Lästiges abwehren und sich selbst behaupten. Vielleicht geht es ihnen darum, einen Befreiungsschlag auszulösen: gegen die Eltern, gegen die Lehrer, gegen jede Art von Autorität und Bevormundung. Mir, als ihre Lehrerin kommt es so vor, als ob sie das ausleben, was sie sonst nicht zeigen dürfen, weil sie Angst vor Sanktionen haben. Ich bekomme das sogar zu spüren: Sie rebellieren gegen Schule und Lehrer: „Lehrern kann man nicht vertrauen und nichts anvertrauen.“ Meine Kollegen und ich versuchen mit ihnen zu reden, stellen Fragen nach dem „Warum?“. Mein Ziel dabei: Vertrauen aufbauen, Kompetenzen stärken. Klare Erwartungen benennen und ehrliche Rückmeldungen geben. Auseinandersetzungen sind niemandem zu ersparen auch wenn sie unangenehm sind – sogar für mich. Darin liegt vielleicht der Unterschied zu dem Vater in der Geschichte, die Jesus erzählt hat. Er lässt es einfach laufen mit den unterschiedlichen Söhnen. Aber so geht Leben nicht. Leben geht nur über Gespräch.

Vielleicht hätte es geklappt mit den beiden, wenn nicht der Bruder von Joel und gleichzeitig Simons Freund bei einem Unglück gestorben wäre. Dieser Tod reißt ihnen den Boden unter den Füßen weg. Der Bruder, mit dem Joel sich ein Zimmer teilte, der sein einziger Familienvertrauter war, ist tot. Joel spricht ab jetzt nicht mehr, nimmt keine Hilfsangebote an, trinkt viel, trinkt sich aus der Realität, hält das Leben nicht mehr aus, kifft sich weg. Und auch Simon redet kein Wort mehr, bloß keine Schwäche zeigen, nicht über diesen Tod sprechen. Da ist es wieder, sein Motto: „Gib nie die Kontrolle ab! Vertraue keinem!“ auch nicht den Lehrern. Dabei erahnt er schon da, dass er die Kontrolle eigentlich verloren hat und dass Schweigen keine innere Starre löst.

Joel und Simon haben eine schwierige Zeit erlebt. Sie sind nicht gerade vom Leben verwöhnt worden. Und: Sie rebellieren, gegen ihre Eltern, gegen die Lehrer, gegen jede Autorität. Und doch lernen sie dabei etwas: Ihr Leben in die Hand zu nehmen.

So vergeht die Zeit. Am Ende der zwei Jahre wird es knapp für beide. Joel schafft sein Fachabitur, so eben und ist jetzt in der Ausbildung zum Erzieher. Simon dreht noch ‘ne Runde. Und diese letzte Schulrunde, da bin ich sicher, wird er schaffen.

Aber beiden ist es wichtig, ihre Botschaft hier loszuwerden, das, was sie eigentlich gelernt haben aus ihrem bisherigen Leben: „Nimm dir Zeit für die Schule. Wir haben fast fünf Jahre gebraucht, um zu schnallen, wie wichtig Schule ist. Und so schlimm sind sie nicht die Lehrer, sie sind nicht deine Feinde, sie entscheiden nicht über dein Leben. Da entscheidest du selber drüber. Ach, und noch was, Mensch, hört sich das spießig an: „Wenn du fällst, steh auf! Es gibt immer Menschen, die dir helfen.“

Das haben die beiden selbst gesagt. Und ich muss sagen: Es sind klasse Jungs, der Joel und der Simon. Sie hatten den Mut, mit mir über ihr Leben zu sprechen. Mehr noch: Mir ist einmal mehr klar geworden, wie wichtig es ist, zu rebellieren. Man wächst nur an den Widerständen. Und klar ist, wir brauchen die Ungehorsamen, die nicht Angepassten! Wir brauchen die, die mit dem Leben ringen, die sich nicht einsperren lassen. Sie zeigen uns die Schwachstellen unseres Lebens.

Musik VI:

In der Geschichte, die Jesus den Etablierten der Gesellschaft erzählt, waren die Söhne für das Leben auch noch nicht bereit. Sie haben – jeder auf seine Weise – rebelliert und sich vor der Verantwortung gedrückt. Sie brauchten auch Zeit für sich, um zu gucken, wo das Leben so lang geht. Und ich will eine Lanze für den Vater brechen: Der Vater lässt sie machen zwingt sie nicht, sanktioniert ihr Verhalten nicht. Er weiß, irgendwann treffen sie ihre eigene Entscheidung. Bei der Geschichte von Jesus heißt es schließlich: „Wer hat denn den Willen des Vaters erfüllt?“ Die Leute sagen: „Na klar, der, der am Ende gehorsam war, der das gemacht hat, was der Vater wollte. “Ich finde dagegen spannend: Lasst den jungen Menschen den Entscheidungsfreiraum, vertraut ihren Entwicklungen, und seid überrascht von der Kreativität ihrer Lebensmaximen. Bleiben wir als Eltern und Lehrer in Kontakt mit ihnen, die uns anvertraut sind. Nehmen wir sie in ihrer Autonomie ernst und ich bin mir sicher: Sie können uns mit ihrer Sicht auf das Leben überraschen.

Aus Essen grüßt Sie Barbara Mikus-Boddenberg, Mutter von drei Söhnen.

Musik VII:


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