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Kirche in WDR 5 | 17.01.2024 | 06:55 Uhr
Versöhnung
In letzter Zeit muss ich oft an den Zweiten Weltkrieg denken. Nicht zuletzt, weil in der Ukraine Krieg herrscht – und bei meiner Mutter seitdem alte Erinnerungen wieder hochkommen. Ich habe erst spät verstanden, was für ein traumatisches Erlebnis der Feuersturm in Darmstadt war, dem sie einst entkommen ist. Noch intensiver empfinde ich das, seit in Israel Krieg herrscht dort, wo ich heute lebe.
Ich bin ratlos, wenn ich sehe, dass wieder einmal Krieg als der einzig mögliche Weg erscheint, auf das entsetzliche Geschehen, das brutale Massaker vom 7. Oktober zu reagieren. Ein Krieg, bei dem es so viele unschuldige Opfer gibt. Ein Krieg, der zugleich neuen Hass sät, der die Basis für ein Miteinander auch für die vergiftet, die eigentlich friedlich miteinander leben wollen.
Und so erahne ich, was es für eine Leistung war, dass nach dem Zeiten Weltkrieg Versöhnung, Verzeihung möglich wurde. Jedenfalls für viele. Aus Gegnern wurden Partner; sogar Deutsche und Juden näherten sich wieder an – auch wenn die Versöhnung nicht so allgemein war, wie man hoffen und glauben wollte.
Das erfuhr nicht zuletzt auch die jüdische Dichterin Mascha Kaleko: Geboren in Galizien, lebte sie später in Berlin, flüchtete vor den Nazis nach New York und zog schließlich 1960 nach Jerusalem. Kurz vor ihrer Übersiedlung nach Israel hatte sie die Annahme des deutschen Fontane-Preises abgelehnt, weil in der Jury ein ehemaliger SS-Mann saß. Für diese ihre Haltung wurde sie damals beschimpft. Doch auch in Jerusalem wurde sie nie wirklich heimisch. 1975 starb sie auf der Rückreise von einem Deutschland-Besuch in Zürich.
Von Mascha Kaleko stammen Gedichte, die mich bis heute bewegen. Sie versuchen, umzugehen mit Not und Leid – und sprechen vorsichtig vom Verzeihen. So schrieb sie 1939, schon im Krieg, einen Text zum Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungstag.
Sprecherin:
„Herr, unser kleines Leben – ein Inzwischen,
Durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.
Und unsre Jahre – Spuren, die verwischen,
Und unser ganzes Sein – nur ein Einstweilen.
Lass du uns wissen, ohne viel zu fragen,
Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihn.
Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen.
Und lass uns einsam, nicht verlassen sein.
Wir sind nicht da, um richtend zu begreifen,
Uns ward bestimmt zu glauben und zu tun.
Und wenn uns Gottes Mantelsäume streifen,
Im Schatten seiner Falten auszuruhn.“[1]
„Wir sind nicht da zu richten...“ „Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihn...“ Ach, wenn wir doch dazu die Kraft hätten!
Nicht nur hier in Israel werden Menschen einander viel verzeihen müssen, wenn es einen Neuanfang geben soll.
Bis dahin möge uns allen wenigstens das vergönnt sein: Manchmal im Schatten von Gottes Mantelfalten auszuruhn. Vielleicht bekommen wir da die Kraft zur Versöhnung.
Aus dem Heiligen Land von Juden, Christen und Muslimen grüßt Sie Georg Röwekamp
[1] Aus der in New York herausgegebenen Zeitschrift „Aufbau“, Titelseite zum 15. September 1939.