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Das Geistliche Wort | 03.03.2024 | 08:40 Uhr
„Ihr seid selbst Fremde gewesen“
Ich stamme aus dem Oldenburger Münsterland, aus einem kleinen Dorf im Landkreis Vechta, in Niedersachsen. Vor mehr als dreihundert Jahren begann aus dieser Region eine Migrationsbewegung. Jahr für Jahr zogen viele Männer, zum Teil auch Frauen, in die reichen Niederlande. Das haben die nicht freiwillig gemacht. Not und Hunger trieb sie in den Westen, um sich dort saisonweise als Kanalarbeiter zu verdingen, als Torfgräber und Grasmäher. Was machten dann diese Kanalarbeiter aus meiner Heimat, zum Beispiel in Amsterdam? Sie schaufelten die Fäkalien aus den Grachten. Weil Infektionen überall lauerten, starben viele. Auf den Höfen durften sie die Wohnungen der Bauern nicht betreten; sie schliefen in Ställen und Scheunen. Bei Krankheit wurden sie auf Leiterwagen geladen und möglichst ohne Stopp zurück gekarrt, Richtung Osten, ins Oldenburger Münsterland. In den Niederlanden wurden die „Hollandgänger“ für diese „Drecksarbeit“ verachtet und als „Hannekemaiers“ verspottet.
Heute, im Jahr 2024, findet in meiner Region Migration unter anderen Vorzeichen statt und in anderer Richtung. Dort und nicht nur dort: In ganz Deutschland werden Arbeitsmigranten ausgebeutet. Die, die damit Geld verdienen, nutzen die Notlage dieser Menschen aus. Und: Verachtet werden die Arbeitsmigranten mitunter wie einst die „Hollandgänger“. Die Region, aus der vor 300 Jahren Menschen wegen der Arbeit gen Westen migriert sind, ist zum Schauplatz moderner Sklaverei geworden.
Musik 1: Underground (Tom Waits)
Mich lässt die Lage von Arbeitsmigranten hierzulande nicht in Ruhe. Auch, weil ich die Bibel lese. Dort steht im Buch Levitikus:
Sprecher:
„Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“ (Lev 19,33f.)
Ich bin Priester. Mein Bruder Florian ist Arzt. Er sieht jeden Tag, welche chronischen Leiden diejenigen davontragen, die es trotz der Menschenschinderei schaffen, über mehrere Jahre durchzuhalten. Zum Beispiel in den Schlachthöfen. Das ist harte körperliche Arbeit in feuchten und sehr kalten Räumen. Dann der ständige Druck, noch schneller zu arbeiten. Irgendwann ist auch der Stärkste irgendwann physisch und psychisch am Ende. An Weihnachten erzählte mein Bruder mir von einem Patienten. Der Mann aus Bulgarien arbeitet in einem großen Putenschlachthof im Oldenburger Land. Zusammen mit zwei Kollegen muss er täglich in einer gut zwölfstündigen Schicht 26.500 geschlachtete Puten aufhängen, das sind ungefähr 9000 Tiere pro Person, das sind mehr als zweihundert Tonnen Fleisch pro Arbeiter in einer Schicht, sechs Tage in der Woche. Er verdient für 280 Arbeitsstunden im Monat 1400 €. Das sind genau 5 € pro Stunde für diese Schwerstarbeit. Geht rechtlich eigentlich nicht, ist aber so.
Sprecher:
„Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken“
Mittlerweile ist auch das Land NRW aufgewacht. Mehrfach hat Bauministerin Ina Scharrenbach großangelegte Razzien in der Leiharbeiter-Szene angeordnet. Einige hat sie selbst begleitet in Städten entlang der niederländischen Grenze wie Goch, Emmerich oder auch Gronau. Was sie dort sah? Menschenunwürdige Unterbringungen. Sie sah die Wohnverhältnisse von Menschen, die auf deutscher Seite in Bruchbuden hausen und in den Niederlanden in Schlachthöfen schuften. Die Arbeitsmigranten zahlen zwischen 300 und 400 Euro Miete für eine Matratze im verschimmelten Mehrbettzimmer. Das gleiche Bett wird im „Schichtbetrieb“ von mehreren genutzt. Die Ministerin sah Brandschutzmängel, fehlende Strom- und Wasserversorgung, defekte Heizungen. Sie war so entsetzt und angeekelt, dass sie einige Unterkünfte sofort geschlossen hat. Frau Scharrenbach sprach von ausbeuterischen Miet- und Wohnverhältnissen und von „moderner Sklaverei“.
Musik 2: Soundtrack
„the Hours“
(Philipp Glass)
In Deutschland ist Arbeitskraft ein knappes Gut. Gleichzeitig soll sie aber billig sein – damit die Gewinne stimmen. Daher werden Menschen aus immer ärmeren Regionen Osteuropas rekrutiert. Erst waren es Menschen aus Polen, später aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien. Jetzt kommen sie auch aus Nicht-EU-Staaten wie Moldawien oder Mazedonien, dann ist ihr Einsatz nicht selten illegal. Geflohene Menschen anzuwerben und auszubeuten, ist ebenso Praxis. Menschen werden benutzt, verschlissen und dann entsorgt - wie Maschinenschrott: „Wegwerfmenschen“. Wegwerfmenschen bauen unsere Kreuzfahrtschiffe und teure deutsche Autos, machen den Glasfaserausbau, schuften als Scheinselbständige in Schlachthöfen, auf Baustellen, bei Ausstall-Kolonnen und als Paketzusteller.
Dabei hilft ein ausgeklügeltes System, diese Menschen zu uns zu locken – mit großen Versprechungen – um sie dann schnell abhängig zu machen von ihrem Arbeitsgeber. Das Netz dieser Schuldsklaverei spinnt sich vom eingezogenen Reisepass, über die Wohnverhältnisse bis zu dem Verbot, über all dies zu sprechen. Wer auspackt, dem drohen Sanktionen wie körperliche Gewalt und der Ausschluss von der Arbeitsmöglichkeit in der ganzen Branche. Die Arbeiter werden hingehalten, gedemütigt und erpresst.
Das erste Wort, das Arbeitsmigranten in unserer Sprache lernen, ist das Wort: „Schneller!“ Ärzte wie mein Bruder berichten sehr eindrücklich, was das beispielsweise mit Menschen in den Schlachthöfen macht, wenn sie 6 Tage in der Woche, 12 Stunden am Tag bei minus 18 Grad arbeiten oder immer den gleichen Schnitt durch einen Tierkörper machen oder 30kg-Kisten schleppen. Zur körperlichen Belastung kommt die psychische: Die systematische Demütigung, die Angst und die ständige Sorge, wie es morgen weitergeht. Menschen werden zu Krüppeln geschunden, dann aussortiert und ersetzt. – Wegwerfmenschen. Das passiert nicht irgendwo, sondern hier, mitten unter uns! Als Priester sehe ich mich auch für diese Menschen bestellt, die mitten unter uns wohnen. Nicht nur für die treuen KirchgängerInnen oder für die Eltern und Kinder, die unsere katholischen KiTas besuchen. Und mich wundert immer wieder, wie wenig in der Kirche vor Ort, aber auch in der Gesellschaft im Ganzen, diese Menschen im Blickfeld sind, für die das Wort „Wegwerfmenschen“ leider viel zu oft treffend ist. Dass Menschen aus Rumänien und Bulgarien als gleichwertige Mitbürger und Nachbarn gelten und nicht missbraucht werden als Billiglöhner und Drecksarbeiter – davon sind wir gaaaanz weit entfernt! Dahinter steht ein latenter oder auch offener Rassismus diesen Menschen gegenüber, nach dem Motto: „Rumänen und Bulgaren müssen auch mit weniger zufrieden sein.“
Müssen sie das? Macht das nicht nur Sinn in einer Sklavenhalterlogik?
Musik 3: In the Neighbourhood (Tom Waits)
Ausbeutung von Menschen, Sklaverei, „funktioniert“ bis heute immer da, wo Menschen als Nummer geführt werden, wo sie kein Gesicht haben, keinen Namen und keine Geschichte. Osteuropäische Werkvertragsarbeiter sind uns meist nicht persönlich bekannt: Sie leben unter uns und sind doch Bürger einer dunklen Parallelwelt, eine große anonyme Gruppe, eine „Geisterarmee“.
So werden sie ohne Aufsehen und ohne schlechtes Gewissen ausgebeutet, betrogen und gedemütigt. „Die Polin“, die Meiers Oma pflegt, die hat ja keinen Vornamen. Genauer gesagt, es interessiert sich niemand für ihren Vornamen, obwohl sie schon das dritte Mal bei Meiers ist. Und „der Rumäne“, der bei Müllers auf dem Hof arbeitet, dem geht es genauso; das ist „Müllers Rumäne“. Zynisch gesprochen: Wenn ich keinen persönlich kenne, tut es auch gar nicht so weh, wenn sie ausgebeutet werden. Und, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer - geben Sie ´s zu: Sie kennen auch keinen…
Und weil ich genauer hingucken will, möchte ich jetzt noch ein Dunkelfeld ansprechen, bei dem das mit den „Wegwerfmenschen“ am drastischsten zum Himmel schreit: Jeden Tag kaufen in Deutschland eine Million Männer den Körper einer Frau. Deutschland gilt als das „Bordell Europas“. Mehr als 90% der Frauen und Mädchen auf dem deutschen Strich sind Migrantinnen aus Afrika und aus Südosteuropa. Oft sind es Roma, oft Analphabetinnen, nicht selten sind es Minderjährige. Sie werden hierher gelockt mit dem Versprechen einer Arbeit in der Gastronomie oder im Frisörhandwerk. Einmal in Deutschland angekommen, werden sie jedoch in großer Zahl zur Prostitution gezwungen und gefügig gemacht mit Drogen und angedrohter und mit ausgeführter körperlicher und psychischer Gewalt. Nicht selten machen das die gleichen Leute, die im Hauptgeschäft Männer und Frauen als Billiglöhner in die Fleischfabriken schleusen. Fachleute der Polizei sagen: Höchstens drei Prozent der Migrantinnen machen freiwillig Sexarbeit. Alle andern sind gefangen in Abhängigkeiten.
Ich weiß, das alles sind Zumutungen an einem Sonntagmorgen. Aber doch nur, weil die Verhältnisse eine Zumutung sind. Das alles schreit für mich zum Himmel. Wie in der Bibel. Da schreit der Prophet Amos es im 8. Jahrhundert in den feierlichen Tempelgottesdienst hinein:
Sprecher:
„Hört dies, die ihr den Armen tretet und ?darauf aus seid,? die Elenden im Land zu vernichten, und sagt: Wann ist der Neumond vorüber, dass wir Getreide verkaufen, und der Sabbat, dass wir Korn anbieten; um das Efa zu verkleinern und den Schekel zu vergrößern und die Waage ?zum? Betrug zu fälschen, um die Geringen für Geld und den Armen wegen eines Paares Schuhe zu kaufen, und damit wir den Abfall des Korns verkaufen? Geschworen hat der HERR beim Stolz Jakobs: Wenn ich alle ihre Taten jemals vergessen werde! Sollte darüber nicht die Erde erbeben und jeder trauern, der auf ihr wohnt“? (Am 8,4-8)
Musik 4: Sinner’s Prayer (BB King und Ray Charles)
Von den biblischen Propheten ist mir Amos der Liebste. Er ist, wenn man so will, der großer Sozialkritiker in der Bibel. Amos legt zu seiner Zeit den Finger in die Wunde. Er benennt das Unrecht beim Namen.
Prophet*innen fordern und leben den Übergang in eine neue Weltordnung, in ein neues Wirtschaften. Ihre Worte sind oft vergeblich und nicht ungefährlich, aber sie können nicht anders. Christlichem Leben wohnt das Prophetische inne, das Wachsame und Achtsame. Barmherzigkeit ist die Haltung, die daraus erwächst: „Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen…“ – sagt Jesus im Matthäusevangelium. Kompromisslos identifiziert er sich mit den Kleinen und Schwachen. Solche Barmherzigkeit macht stark und demütigt nie. Sie beruhigt nicht, sondern prangert Ungerechtigkeit an. Sie ist politisch und parteiisch. Ihr empfindlicher Punkt ist die Missachtung der Kleinen und Schwachen. Dagegen steht sie auf. Barmherzigkeit, biblisch verstanden, führt in die Freiheit; sie macht Menschen stark und selbständig.
Der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer war ein Prophet unserer Zeit. Er hat einmal gesagt, es könne die Situation eintreten, in der es für die Kirchen darauf ankäme „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“ (Bonhoeffer: „Die Kirche vor der Judenfrage“, April 1933).
Mit Blick auf die Lage der Arbeitsmigranten heißt das für mich: Die Kirchen müssen genau hier Widerstand leisten gegen die Ausbeutung. Dieser Dienst bedeutet, denen zu helfen, die unter die Räder geraten sind, und, wenn nötig, dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.
Papst Franziskus schreibt:
Sprecher:
„Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut
betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann.“ (Evangelii gaudium 53)
Ich bin überzeugt: Eine Gesellschaft, die solche
„Wegwerfmenschen“ zulässt, zerstört letztlich auch sich selbst. Eine solche
Gesellschaft kann technisch hoch entwickelt sein. Wenn ihr aber das Bewusstsein
für die unveräußerliche Würde eines jeden
Menschen verloren gegangen ist,
verliert sie ihre Kultur: die Wurzeln, aus denen sie lebt.
In unserm Land wird zurzeit in höchst fragwürdiger Weise über Migrantinnen und Migranten diskutiert. Es wird der Eindruck erweckt, als seien sie viel zu viele und insgesamt eine Überforderung. Aber: Aufgrund der Überalterung braucht Deutschland einen „Nettozuzug“ von mindestens 400.000 Menschen jährlich. Unsere Wirtschaft geht in die Knie, wenn nicht mindestens so viele Menschen jedes Jahr neu zu uns kommen. Wie töricht ist es also, Arbeitsmigranten auszubeuten, abzuzocken und zu verschleißen! Stattdessen müsste es uns darum gehen, Wertschätzung zu zeigen, Brücken zu bauen und Türen zu öffnen. Die Kirchen haben hier einen wichtigen Dienst. Und eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.
Musik 5: Soundtrack
„the Hours“
(Philipp Glass)
Vor über 300 Jahren sind Menschen aus dem Oldenburger Münsterland ausgewandert. Im Buch Exodus in der Bibel heißt es:
Sprecher:
„Einen
Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr seid selbst in Ägypten
Fremde gewesen.“ (Ex 22,20)
Mit Blick auf meine Heimat könnte ich also sagen „… eure Vorfahren sind selbst Hollandgänger gewesen, ausgebeutet und verachtet!“ Es geht anders! Es geht besser! Es gibt keinerlei Rechtfertigung für moderne Sklaverei und Mietwucher in dieser Region und nirgendwo. In dieser unmenschlichen Maschinerie von Ausbeutung und Abzocke will ich Sand im Getriebe und Bremsklotz sein! Sind Sie dabei?
Musik 6: I wish, I knew how (Nina Simone)
darin: Aus Lengerich grüßt Sie Pfarrer Peter Kossen.