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Schwächen stärken

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Das Geistliche Wort | 14.04.2024 | 08:40 Uhr

DIESER BEITRAG ENTHÄLT MUSIK, DAHER FINDEN SIE HIER AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN KEIN AUDIO.

Schwächen stärken

Autor 1: Der Vater strahlt. Voller Stolz. Er berichtet, dass seine Tochter negativ getestet wurde. Ich bin Pfarrer in der Militärseelsorge und besuche eine Soldatenfamilie mit drei Kindern. Der jüngste Sohn Karl soll getauft werden. Der Mittlere, Emil wird im Sommer eingeschult. Aber zunächst geht es um die Tochter. Evelyn ist vierzehn. Wir unterhalten uns im Esszimmer, Kaffeetassen stehen auf dem Tisch, Gebäck auch. „Eine gute Nachricht“, sagt der Stabsfeldwebel. Direkt nach der Einschulung, so erzählen mir die Eltern, sei bei ihrer Evelyn eine Lese- und Rechtschreibschwäche, eine LRS diagnostiziert worden. Sie habe sich sehr schwer getan mit dem Schreiben-Lernen und dem Lesen. In der Grundschule wurde gelacht, wenn sie mit dem Vorlesen an der Reihe war. Es gab Tränen zu Hause, wenn Klassenarbeiten bevorstanden und erst recht, wenn sie zurückgegeben wurden. Evelyn hat sich oft geschämt, ging nicht immer gern in die Schule. Sie wurde getestet, erhielt Therapien, jahrelanges Training bei einer Therapeutin. „Und jetzt?“ frage ich. Die Mutter berichtet, dass seit gestern ein weiteres Testergebnis vorliegt. Es sagt, dass Evelyn sich bei Schreibaufgaben im oberen Mittelfeld der Durchschnittsschüler bewege. Sie hat offensichtlich keine LRS mehr.


Sie habe sich mächtig gefreut. Und nicht nur sie. Er ist sehr stolz auf seine Tochter, sagt der Soldat, dass sie mit ihrem Fleiß und ihrer Beharrlichkeit es so weit gebracht hat. Und wieder strahlt er.


Als ich diese Geschichte höre, denke ich bei mir: Ist das nun eigentlich wirklich eine menschliche Schwäche, diese Lese- und Rechtschreibschwäche, unter der viele Kinder leiden und dafür einen Nachteilsausgleich erhalten? Einerseits gewiss, sie können weniger gut als andere Rechtschreib- und Satzbauregeln befolgen und einhalten. Sie formulieren anders, gehen sehr kreativ mit Buchstaben um. Aber ist das wirklich Schwäche?


Denn welche Stärke hat dieses Mädchen aufgebracht und entwickelt, sich damit nicht abzufinden, sondern zu trainieren, immer wieder sich den Aufgaben zu stellen, Regeln zu lernen, Rückschläge hinzunehmen. Oft auch mit zornigen Tränen insbesondere beim Vokabellernen, aber nun mit messbarem Erfolg. Und mit Stolz freut sie sich. Muss man bei dieser Schwäche nicht eigentlich von einer ganz besonderen Stärke sprechen?


Musik 1: Befiehl du deine Wege, instrumental

Künsterin: Sarah Kaiser, Album: Gast auf Erden; Label: GerthMedien; LC: 13743


Autor 2: Wir sprechen über die Taufe des Jüngsten. Karl soll getauft werden. Wir sprechen über den Ablauf des Gottesdienstes und wer die Paten sind und wer das Wasser in den Taufstein gießen wird. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Dieser Satz aus dem Psalm 23 wird der Taufspruch. Wir reden darüber, wie man die Taufkerze selbst und kreativ gestaltet und mir wird mir klar: Bei all dem geht es um Segen. Um die Hoffnung auf Gottes Segen, der alles Leben, auch das von Karl, von Emil und Evelyn zum Guten führen will. Auch das Leben dieser drei Kinder in dieser Soldatenfamilie, bei der ich zu Besuch sein darf.


Musik 1: Befiehl Du Deine Wege, Str 1.


Autor 3: Befiehl Du Deine Wege ist ein Lied von Paul Gerhardt, das mich sehr berührt: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ Welch ein Vertrauen. Diese Liedverse sind über 320 Jahre alt – sie entstanden zu einer Zeit, als der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges erst wenige Jahre vorüber war, der sich auch in die Lebensgeschichte des Liederdichters Paul Gerhardt tief eingegraben hat. Und nun dies: „Dem Herren musst du trauen, wenn dir’s soll wohlergehn“.


Wie macht man das, ein solches Vertrauen aufbringen, zu einem solchen Glauben finden an die Macht des göttlichen Segens, der sich fühlbar auswirkt auf das eigene Leben? Für Paul Gerhardt hängt das Eine am Andern: Wer auf Gott vertraut, dem wird es wohlergehen.


Dies gilt auch für das Taufgespräch mit der Soldatenfamilie. Beim Erzählen über den Weg ihrer Tochter Evelyn, den aufgeweckten Emil und die Taufe des kleinen Karl wird mir deutlich, wie groß die Hoffnungen sind und wie stark die Wünsche. Dieser kleine Kerl, der aufmerksam auf seiner Krabbeldecke liegt und immer wieder zu uns herüberschaut, soll ein gutes, ein gesegnetes Leben haben. Es soll ihm wohlergehn, bitte. Mit Bedacht suchen die Eltern ihre Taufpaten aus und überlegen, welche Texte, welche Lieder passen.


Mich bewegt, wie viel Liebe diese Beiden für ihre Kinder aufbringen. Und welche Hoffnung sie in die Kraft des Segens legen, der sich an ihnen auswirkt. Deswegen der Wunsch zur Taufe: Auch in sie mündet die Bereitschaft, ihren Kindern Bestmögliches angedeihen zu lassen. Was lässt Menschen stark werden auf ihrem Weg, so dass – wie bei der Tochter Evelyn – irgendwann deutlich wird: Auch das, was andere möglicherweise als deine Schwäche ansehen, als Behinderung und als Einschränkung etikettieren, kann zu einer besonderen Stärke werden. Emil, der langsam zu dem Besucher Vertrauen fasst und mir sein Lego-Auto zeigt, macht mir es klar: So, wie diese Kinder sind, entfaltet sich Liebe ganz besonders stark. Und erst recht, wenn sie herausgefordert ist und sich bewähren und erweisen muss, weil da Schwierigkeiten sind und Sorgen.


Musik 1: Befiehl Du Deine Wege, Instrumentalteil am Schluss


Sprecherin (overvoice):

4. Weg hast du allerwegen, an Mitteln fehlt dir’s nicht;

dein Tun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht;

dein Werk kann niemand hindern, dein Arbeit darf nicht ruhn,

wenn du, was deinen Kindern ersprießlich ist, willst tun.



Autor 4 (weiter overvoice): Aber wie wirkt Gottes Segen? Was ist das für eine Kraft, die man Segen nennt? Woran erkennt man ihn und wie wirkt er sich aus? Und noch einmal anders gefragt: Kann es auch sein, dass Gott unser Vertrauen in seinen Segen enttäuscht?


Musik 1: Befiehl Du Deine Wege,

nochmal kurz freistehend instrumental, dann ausklingen lassen


Autor 5: Vor einigen Wochen stand ich an der Autobahn. An ihrem Rand ist ein Kreuz aufgestellt, das an einen tragischen Unfall erinnert. Vor über zwanzig Jahren sind 11 Menschen hier ums Leben gekommen. Ein Reisebus war an einem kalten, nassen Wintermorgen in den frühen Morgenstunden um 5.20 Uhr kurz hinter vor der französischen Grenze in die Betonbegrenzung der Fahrbahn geraten. Der übermüdete Fahrer konnte den Bus nicht mehr unter Kontrolle bringen. Durch Funkenflug fing das austretende Benzin sofort Feuer. 37 Insassen konnten sich retten, aber 11 Menschen starben in den Flammen im brennenden Bus.


Dieses Unglück ist nun zwanzig Jahre her. Ich stehe mit den Eltern eines damals 18jährigen jungen Mannes, ihres einzigen Sohnes und mit anderen Angehörigen an diesem Kreuz an der Autobahn. Sie haben Blumen mitgebracht und seine Mutter hat elf weiße Steine in einem Beutel. Auf ihnen stehen die Namen der 11 Todesopfer und ihre Lebensdaten. Sie hat diese Steine selbst bemalt, die sie nun rund um das Kreuz ins Gras legt. Am Vorabend des 20. Jahrestages, an dem ihr Sohn und seine Freundin ihr Leben verloren. Er hatte den Bus offenbar bereits verlassen. Er stand schon draußen und war gerettet. So hat es ein Augenzeuge erzählt. Als er merkte, dass seine Freundin nicht bei ihm war, ist er wieder hinein in den brennenden Bus. Beide sind ums Leben gekommen.


Als wir hier stehen, ist dieses tragische Unglück so präsent, als wäre es gestern passiert. Die Eltern erzählen, wie es war, als sie die Nachricht vom Unfall erhielten und sich sofort auf den Weg machten. Und nun stehen sie seit zwanzig Jahren jedes Jahr am Unglückstag erneut an diesem Ort und erinnern sich an ihren einzigen Sohn und gedenken auch der anderen Verstorbenen.


Wir feiern einen Gottesdienst am Vorabend des Jahrestages, zünden Kerzen an, sprechen ein Gebet und sitzen hinterher noch lange beieinander. Und am nächsten Morgen stehen diese beiden Eltern mit anderen Angehörigen in einer dunklen, eiskalten, regnerischen Winternacht um 5.20 Uhr am Kreuz, das den Unglücksort markiert. Entzünden Kerzen. So wie jedes Jahr.


Musik 1: Befiehl Du Deine Wege, Str. 7


Autor 6: Warum, Gott, lässt Du das zu? Wie oft mögen sich Angehörige nach solchen Unglücksfällen, nach einem schmerzhaften, viel zu frühen Tod eines geliebten Menschen diese Frage gestellt haben?


Gott lenkt die Dinge? Gott führet alles wohl? Lässt sich das auch sagen an diesem Kreuz an der Autobahn, das an elf Menschen erinnert, die hier ihr Leben verloren haben? „Nein, Paul Gerhardt“ möchte ich protestierend einwenden. „Nein, das kann nicht Gottes Wille sein!“ Segen erweist sich doch im Leben, nicht im Sterben! Wie schmerzhaft wurden hier die Hoffnungen, die Liebe und Fürsorge von Eltern enttäuscht!


Doch ich lerne dazu. Von den Angehörigen, die voller Dankbarkeit auf das Angebot des Gottesdienstes und der Begleitung reagieren. Mir scheint, längst sind sie über die Fragen, den Protest, die Verzweiflung hinaus. Nun bleiben die Erinnerung und eine Verantwortung, das Andenken an ihren Sohn und die anderen zehn Menschen, die mit ihm starben, lebendig zu halten und diesen Ort zu pflegen. Weil sie ihm und sich selbst als Eltern dies schuldig sind. Weil ihre Liebe weiterhin stark ist.


Und vielleicht lebt auch der Segen Gottes weiter, gegen unseren Protest, über unser Fragen hinaus, überlebt unser Hadern und Zweifeln auch.


Musik 2: Befiehl du deine Wege (feat. Chris Gall)

Komposition: Bartholomäus Gesius; Interpreten: Quadro Nuevo; Album: Songs for Peace; Label: GLM Music; LC: 58955


Autor 8: Heute ist der zweite Sonntag nach dem Osterfest. In aller Welt haben Christen die Auferstehung Jesu gefeiert. Das Fest des Lebens. Aber was ist mit den vielen Toten, die nicht wieder auferstehen, die einfach tot bleiben und weg und in einem Menschenleben fehlen?


Als Pfarrer in der Notfallseelsorge und in der Militärseelsorge habe ich die Verzweiflung über einen plötzlichen Tod oft miterlebt. Viele Fragen und auch viele Antworten auf diese Fragen gehört. Viele trauernde Angehörige, manche Eltern, die ihr Kind verlieren, bleiben über den Tod hinaus verbunden mit denen, denen sie das Leben geschenkt, mit denen sie es geteilt haben. Manche auch mit ihren Eltern, denen sie ihr eigenes Leben verdanken. Offensichtlich, so habe ich von ihnen erfahren, gibt es Formen von Verbundenheit, die das Sterben und den Tod sehr lange überdauern. Nach dem Protest, der Verzweiflung findet anderes seinen Platz. Das Leben geht weiter mit den geliebten Menschen. Sie behalten ihren Platz. Es bleiben Erinnerungen, Liebe, Verantwortung. Und oft auch Dankbarkeit für das, was war und nachwirkt. Vielleicht auch ein Vermächtnis oder Auftrag, etwas, das man aufnimmt und weiterführt.


Der heutige Sonntag hat im Kirchenjahr seinen eigenen Namen, er heißt „Misericordias Domini“, übersetzt: Die „Gnade des Herrn“. Gottes Gnade reicht offensichtlich weiter, als wir glauben können. Einer der bekanntesten Psalmen der Bibel wird heute in vielen Kirchen gesprochen. Er handelt vom guten Hirten. Oft wird er als Taufspruch oder bei Konfirmationen gesprochen, der Psalm 23.


Sprecherin: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.


Autor 9: Vielleicht ist dieser Psalm auch deswegen so bekannt geworden, weil er auf Sehnsucht antwortet: Er weiß, dass es finstere Täler gibt und auch Unglück. Er spricht sogar davon, dass wir Feinde haben. So ein Lebensweg stellt vor Herausforderungen. Als Militärpfarrer erzählen mir Soldaten aus ihren Auslandseinsätzen, wo sie mit Tod, Verwundung und Entbehrung konfrontiert worden sind. Manche davon leiden stark unter diesen Erlebnissen. Dies kommt mir in den Sinn, als wir in der Soldatenfamilie über die Taufe des kleinen Karl sprechen. Er wird diesen Vers als Taufspruch erhalten: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Und sein Vater, der Stabsfeldwebel, erzählt, wie wichtig ihm dieser Vers geworden ist – als er in Afghanistan monatelang von seiner Familie getrennt war.


Musik 2: Befiehl du deine Wege (feat. Chris Gall)


Es gibt keine Garantien, dass alles immer gut ausgeht, dass nicht Herausforderungen kommen, von denen man große Angst hat und nicht weiß, wie es weitergeht. Wir sind Menschen und so verletzlich wie das Leben des kleinen Karl, der in vier Wochen getauft wird. Ich darf zuhören. Und erfahre etwas von der Kraft des Segens, die sich in harten Zeiten bewährt. Und – so erzählen andere Geschichten von Verlust, Trauer und Neuanfang, sogar durch den Tod noch stärker werden kann. Was für eine Logik. Ist das die Macht des Lebens? Steckt diese Kraft auch hinter den Erzählungen von Jesu Auferstehung? Man kann sie nicht erfassen und begreifen, nur zuhören und vertrauen, auf dieser Spur der Liebe bleiben und sich von ihrer ganz eigenen Kraft mitnehmen lassen. Vertrauen ist oft nicht einfach. Aber es ist die einzige Chance, sich dem Segen zu öffnen. Nicht nur, aber auch dann, wenn es anders kommt als erhofft. Nicht nur, aber auch im finstern Tal und danach. Nicht nur, aber auch im Angesicht von Feinden, vor denen Gott einen Tisch bereitet. Paul Gerhardt lädt dazu ein, zu diesem Vertrauen.


Musik 2: Befiehl du deine Wege (feat. Chris Gall)


Sprecherin (overvoice):
Mach End, o Herr, mach Ende

mit aller unsrer Not;

stärk unsre Füß und Hände

und lass bis in den Tod

uns allzeit deiner Pflege

und Treu empfohlen sein,

so gehen unsre Wege

gewiss zum Himmel ein.


Autor 10 (overvoice): Ich jedenfalls höre dem Lied von Paul Gerhardt auch nach vielen Jahrhunderten gerne zu. Es endet mit der Aussicht auf den Himmel, der unser Verstehen übersteigt und alle unsere Wege überwölbt. Ich grüße Sie als Ihr Pfarrer Uwe Rieske aus Bonn. Gott segne Ihr Leben und heute Ihren Sonntag auch.


Schlussmusik: Fortsetzung Musik 2



Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth und Pfarrerin Julia-Rebecca Riedel


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