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Kirche in WDR 5 | 24.04.2024 | 06:55 Uhr
Leben in Eigenverantwortung
Nur vier Monate kann sie zur Schule gehen, weil sie bei der Arbeit zuhause gebraucht wird. Doch hier zeigt sich schon bald, dass sie ihr Leben sehr wohl selbst in die Hand nimmt: Für ihre Bildung sorgt sie also selber. Sie liest, was immer sie in die Hände bekommen kann. Sie liest beim Hüten des Viehs, an den Sonn- und Feiertagen, an den Abenden, während die anderen Kinder spielen oder die Heranwachsenden sich vergnügen. Sie liest, weil sie ein Ziel hat.
Sie sagt von sich selbst, sie sei hitzig und eigensinnig gewesen. Die Eltern verstanden ihr Kind nicht und bestraften sie oft ungerecht. Anna Katharina hält sich für das „schlechteste Kind auf der Welt“. Und doch liest sie weiter nächtelang. Sie kann nicht anders. Sie will verstehen – das Leben, die Welt und vor allem, was Gott von ihr will. Diese Sehnsucht nach Verstehen lässt später Intellektuelle wie den Pädagogen Bernhard Overberg staunen über die Belesenheit dieser formal ungebildeten, schmächtigen Frau.
Ihr großes Ziel von klein auf ist, in einen Orden eintreten zu dürfen. Im 18. Jahrhundert konnte ihr jeder sagen, dass dies für eine Ungebildete aus der ärmsten Bauernschicht unmöglich war, fehlte ihr doch allein schon die nötige Mitgift. Ihr Vater sagt: „Lieber wollte ich dein Begräbnis als deine Aussteuer für das Kloster bezahlen.“ Doch das hindert sie nicht. Schließlich schafft sie sich als begabte Näherin eine kleine Aussteuer. Als sie erfährt, dass die Klarissen in Münster sie wohl aufnehmen würden, wenn sie Orgel spielen könnte, will sie Orgelspielen lernen. Sie ist inzwischen 25 Jahre alt und hat noch nie ein Instrument gespielt, aber das schreckt sie nicht ab. Wenn sie mit dem Orgelspiel ins Kloster könnte, dann lernt sie eben die Orgel spielen. Dazu arbeitet sie bei dem Kantor Söntgen in Coesfeld, der sie als Lohn das Orgelspiel lehren will. Leider geht ihr Plan nicht auf. Hier in Coesfeld erfährt sie ein solches Ausmaß an bürgerlich verschämter Not, dass sie gar nicht anders kann, als alles zu geben, was sie sich selbst zusammengespart hat, nur um zu helfen. Und dann wäre sie in dieser Familie bei aller Arbeit, die sie nun unentgeltlich tut – denn von Orgelspiel ist keine Rede mehr – fast verhungert, weil Familie Söntgen wie selbstverständlich davon ausgeht, dass diese bäuerliche Magd nicht so viel zum Leben braucht wie sie selbst. Am Ende dieser Zeit ist nicht nur die Mitgift weg. Da sie bei den Söntgens nicht Orgel spielen gelernt hat, ist auch der Zugang zerstört, bei den Klarissen in Münster einzutreten. Und dennoch: Anna Katharina vergisst ihr Ziel nicht und gibt nicht auf. Mich fasziniert ihre Zielstrebigkeit, mit der sie das Ordensleben im Blick hatte und ihr ganzes Tun darauf ausrichtete.
Schließlich kann sie 1802 über eine glückliche Fügung bei den Augustinerinnen im Kloster Agnetenberg in Dülmen eintreten. Das tut sie zusammen mit der Tochter von Kantor Söntgen, sie spielt Orgel, möchte ins Kloster, aber nur zusammen mit Anna Katharina. Über Umwege hat sie ihr Ziel erreicht. Trotz aller Widerstände.
Ob wir nun etwas wünschen oder wirklich wollen – etwas von der Zielstrebigkeit der Anna Katharina Emmerick wünscht Ihnen für heute Schwester Ancilla Röttger aus dem Klarissenkonvent am Dom in Münster.