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Kirche in WDR 5 | 04.06.2024 | 06:55 Uhr

Was andere notwendiger brauchen

Was für ein Satz: „Bitte seien sie achtsam, andere brauchen ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger!“ Als ich im Herbst in Wien zu einer Konferenz war, habe ich den regelmäßig gehört in der Tram, also der Straßenbahn. Passend dazu gab es kleine Piktogramme mit schematischen Darstellungen. Darauf zu sehen waren eine schwangere, eine behinderte und eine ältere Person und auch ein Erwachsener mit Kleinkind auf dem Schoß. Und was soll ich sagen: Mehrmals sind Leute aufgestanden und haben anderen Platz gemacht. Offenbar wirkt diese Ansage: „Bitte seien sie achtsam, andere brauchen ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger!“

Inzwischen versuchen die Berliner Verkehrsbetriebe etwas Ähnliches. Sie werben in den Linienbussen mit Durchsagen wie in Wien. Ich bin gespannt, ob die Berliner ähnlich reagieren wie die Wiener. Wäre ja zu wünschen, dass so etwas Positives passiert.

Zugleich frage ich mich allerdings: Müsste das nicht selbstverständlich sein? Dass wir Platz machen, wenn ein älterer Mensch die Bahn betritt? Warum also die regelmäßige Durchsage dieses Satzes und die aufgeklebten Piktogramme? Zeigt das einmal mehr, wie abgestumpft wir sind? Ok: Auch ich merke nicht immer, was andere brauchen und wo meine Rücksicht und Hilfe gefragt ist. Und selbst da, wo ich es merke, könnte ich sicherlich immer noch mehr tun. Aus diesem Grund ist es auch gut, immer wieder daran erinnert zu werden: Sei achtsam und schau, wie es den Menschen um dich herum geht.

Über die Ansage in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Wien habe ich noch lange nachgedacht, dazu habe ich ihn zu oft gehört: „Bitte seien sie achtsam, andere brauchen ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger!“ Die Ansage fordert mich ja nicht plump auf, meinen Sitzplatz freizugeben, sondern sie ist viel tiefsinniger. Sie lädt mich nämlich zunächst ein, auf mich selbst zu achten. Denn um beurteilen zu können, was der oder die andere notwendiger braucht als ich, muss ich ja zuerst einmal wissen: Was brauche ich denn selbst? Und wenn mir das klar ist, dann kann ich abschätzen, vergleichen und schließlich auch handeln, um anderen zu ermöglichen, was sie notwendiger brauchen als ich. Das ist übrigens ganz biblisch, denn im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi heißt es (Phil 2,4): „Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.“

Anders dagegen der große jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas, der vor knapp 30 Jahren in Paris gestorben ist. Der geht nämlich noch einen Schritt weiter. Er beginnt nicht bei dem eigenen Wohl und der Frage, was brauche ich selbst, sondern er denkt radikal vom anderen Menschen her und sagt: „Die Sorge für den Anderen siegt über die Sorge um sich selbst.“[1] Man kann sogar sagen: Im Zentrum von Lévinas‘ ganzem Denken steht das „Après vous“, das „Nach Ihnen“.[2] Es geht darum, dem anderen den Vortritt zu lassen, den Vorrang. Lévinas sagt daher: „Unsere Menschlichkeit besteht darin, dass wir den Vorrang des Anderen anerkennen können.“[3] Und das zeichnet eigentlich den Menschen als Menschen aus!

Stellt sich nur die Frage, wie man das umsetzen kann, damit es nicht bloß schöne philosophische Gedanken bleiben. Und hier treffen sich Levinas und die Wiener Tram. Für Emmanuel Lévinas spielt nämlich die Sensibilität eine wichtige Rolle, nicht die intellektuelle Einsicht. Er unterstellt: Jeder Mensch hat eine Sensibilität für den anderen Menschen, jeder Mensch ist einfühlsam. Ich würde sagen: Jeder Mensch ist zur Achtsamkeit fähig. Und damit wäre ich wieder bei diesem Satz in der Wiener Tram: „Bitte seien sie achtsam, andere brauchen ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger!“

Einen guten Tag wünscht Ihnen Pater Philipp Reichling aus Duisburg


[1] Zitiert nach: https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-eines-ueberlebenden-100.html .

[2] Vgl.: https://www.feinschwarz.net/apres-vous-zum-26-todestag-von-emmanuel-levinas/ .

[3] Zitiert nach: https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-eines-ueberlebenden-100.html .

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